Mehr als 70.000 Unterschriften! Und jetzt?

Je näher sich der Radkorso Wiesbaden näherte, desto mehr Fotograf:innen und Unterstützer:innen sammelten sich auf den Brücken.

(Fulda | 4. Sept. 2022). Ein Jahr lang sammelten Ehrenamtliche in ganz Hessen Unterschriften für die erste Stufe des Volksbegehrens Verkehrswende Hessen, das von einem breiten Bündnis aus unter anderem dem ADFC und VCD Hessen, FUSS e. V. sowie den Radentscheiden großer hessischer Städte getragen wird. Das Sammeln war von Erfolg gekrönt, denn es kam nicht nur das notwendige eine Prozent der Wahlberechtigten von knapp 44.000, sondern über 70.000 Unterschriften zusammen. Nachdem die Unterschriften letzten Sonntag am Ende einer großen Fahrradsternfahrt, die in einer circa 30 Kilometer langen Fahrt über die A66 kulminierte zunächst symbolisch dem hessischen Verkehrsminister Tarek al Wazir und anschließend dem Landeswahlleiter übergeben wurden, stellt sich die Frage, wie es jetzt weitergeht.

Unterschriften reisten per Lastenrad auf der Autobahn

Der Corker-Pulk am Beginn des Fahrradkorsos – hier mit Werner Buthe (T-Shirt „Ich bin an allem schuld“), einem der maßgeblichen Organisatoren der Sternfahrt.

Aus Fulda radelten sechs für das Volksbegehren Aktive von ADFC und Verkehrswende Fulda (VCD) bereits am Samstag vor dem Tag der Sternfahrt durchs Kinzigtal nach Hanau, wo am Sonntag neben Darmstadt und Friedberg einer der drei Arme der Sternfahrt startete. Mit den Ordnerleibchen des ADFC ausgestattet, begleitete die Gruppe die Sternfahrt aus Hanau dann als „Corker:innen“, deren Aufgabe darin bestand, im Gefolge der Polizeimotorräder Nebenstraßen und Kreuzungen abzusichern, um ein sicheres Passieren des Fahrradkorsos zu ermöglichen. Der erste Tourenabschnitt endete mit einer Kundgebung und Pause an der Messe, während die Senckenberganlage zum Pausenlager und vereinzelt auch zur Fahrradreparaturwerkstatt wurde.

Nach der Kundgebung, die nicht nur eine Verkehrswende forderte, sondern sich auch gegen Projekte wie das geplante Verbindungsstück zwischen der A66 und A661 und die Rodung großer Teile des Fechenheimer Walds aussprach, ging es mit circa 9000 Radfahrenden über die A66 und A648 nach Wiesbaden zum großen Verkehrswende-Festival in den Reisinger Anlagen direkt am Bahnhof. Die Unterschriftenlisten für das Volksbegehren, die aus über 400 der insgesamt 420 hessischen Gemeinden stammen, wurden dabei in Lastenrädern in die Landeshauptstadt transportiert.

Hessen liegt nicht vorn

Tarek al Wazir nimmt die 70.232 Unterschriften symbolisch entgegen.

In Wiesbaden nahm Verkehrsminister Tarek al Wazir dann symbolisch die 70.232 Unterschriften entgegen, die er als „Rückenwind“ bezeichnete, denn „Wir arbeiten seit Jahren an der Verkehrswende in Hessen.“ Es ist allerdings nicht bekannt, dass die Politik der gegenwärtigen hessischen Landesregierung dem Ziel des Verkehrswende-Volksbegehrens in der letzten oder der aktuellen Legislaturperiode näher gekommen wäre. Zentrales Ziel des Begehrens ist es nämlich, den Anteil des Umweltverbunds, also den Fuß- und Radverkehr sowie den öffentlichen Nahverkehr, an den täglich zurückgelegten Strecken der Hess:innen auf 65 Prozent zu steigern. Der deutsche Durchschnitt liegt übrigens bei circa 20 Prozent – wobei Hessen kein Ausreißer darstellt.

Wie geht’s weiter?

Geschafft: Verkehrswende-Aktive nach der offiziellen Übergabe der Unterschriften beim Landeswahlleiter vor dem hessichen Innenministerium.

Nachdem die Unterschriften am Samstagabend dem Landeswahlleiter physisch per Lastenrad vor dem Innenministerium übergeben wurden, müssen sie nun ausgezählt und überprüft werden. Dann überprüft die Landesregierung innerhalb eines Monats, ob das Volksbegehren gesetzeskonform ist. Im nächsten Schritt muss Verkehrswende Hessen nochmals 219.000 Unterschriften durch auf Rathäusern ausgelegte Unterschriftenlisten sammeln, was Unterschriften von fünf Prozent der Wahlberechtigten entspricht. Erst dann entscheidet der Landtag, ob er das Begehren in ein Gesetz gießen will. Falls dies nicht geschieht, kommt es zum Volksentscheid, bei dem die Mehrheit der Hess:innen und mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten sich für den Gesetzesentwurf aussprechen müssen, damit er rechtskräftig wird. Aufgrund dieser großen Hürden kam es bisher in Hessen noch nie zu einem erfolgreichen Volksentscheid.

Denkbar ist allerdings auch, dass die Landesregierung in Hessen – ähnlich wie die kommunalen Regierungen in einigen Städten, in denen Radentscheide angestrengt wurden, sich mit Aktiven der Radentscheide an einen Tisch setzten, um geforderte Maßnahmen umzusetzen – von sich aus eine Gesetzesreform für eine Verkehrswende angeht. Wahrscheinlich bleibt aber, dass auch in einer Zeit breiter Diskussionen um das 9-Euro-Ticket, neuen Ideen für die Finanzierung und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie einer wachsenden Einsicht in die Endlichkeit fossiler Ressourcen angesichts massiv steigender Preise weiterer Druck durch bürgerschaftliches Engagement nötig bleibt.

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